Autoren: Marios Miaris und Ramadan Alkhalaf
Im Juni 2023 entdeckten wir in der Ausstellung über das Einwanderungsland Deutschland „Wer wir sind“ in der Bundeskunsthalle in Bonn, die wir im Rahmen unseres Projektseminars besuchten, ein Bild von 1986 aus Dortmund. Das Bild zeigt eine Szene aus einem Stadtteilfest auf der Heroldwiese, dem ehemaligen Standort unseres Fachbereichs.
Wir haben uns sehr gefreut, dass ein Bild des Fachbereichs Sozialpädagogik es in diese große, renommierte Ausstellung geschafft hat. Zeigt es doch, dass unser Fachbereich schon damals mitten drin im bunten Leben war, in der bevölkerungsdichten Nordstadt. Die Anwohner*innen konnten an den Aktivitäten des Fachbereichs Sozialpädagogik partizipieren, hier im Rahmen eines jährlichen Stadtteilfestes, das ebenfalls auf dem Roll Up mit einer weiteren Aufnahme vertreten ist und vom damaligen Dekan, Karl Markus Kreis, aufgenommen wurde. Lilli Neumann berichtete uns im Interview, wie sehr die barackenähnlichen kleinen Gebäude damals mit Leben gefüllt waren und auch einige künstlerische Aktionen Anrainer und Studierende zusammenbrachten. „Die Studierenden waren damals politischer als heute“, so erlebten es Lilli Neumann und Silvia Denner.
Von einigen pensionierten Professor*innen wie Tahereh Agha und Baldur Schruba erhielten wir Diplomarbeiten, die sie einst betreuten, auch zur Thematik der Migration. Besonders bewegt hat uns das narrative Interview mit der 1950 geborenen Frau K., die 1969 von ihrem Ehemann, der zwischenzeitlich als sogenannter Gastarbeiter im Bergbau in Dortmund arbeitete, aus einem Dorf in Ostanatolien nachgeholt wurde. Die Zusammenfassung des Interviews stellen wir beispielhaft aus der Diplomarbeit „Migration und Gesundheit. Entwicklung der Migration und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit am Beispiel der türkischen Migranten“ von Günay Ari und Mikayil Nayir, die 2004 am FB Sozialarbeit entstand, zur Verfügung. Das Thema Migration war stets hoch gewichtet im Studium: Von 2.594 an unserem Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften entstandenen Bachelorarbeiten in den Jahren 2010-2022 (weiter reicht die Erfassung nicht zurück), finden sich fast ¼ zu Migration und ab 2015 auch verstärkt Flucht wieder (für die Übermittlung der Excel-Tabelle mit den Titeln der Arbeiten danken wir Andreas Salewski von der IT; für die Auswertung den Kommilitonen Felix Frenz und Jan-Christoph Waibel). Nicht zuletzt Migrationserfahrungen von uns Studierenden und Ehemaligen (Helin Düsünmez führte z. B. ein Interview mit einer ehemaligen Studierenden mit türkischem Migrationshintergrund, die zu ‘Diplomzeiten‘ studierte, den Sprung in die akademische Welt schildert und sich durch das Studium begann mit Frauenrechten auseinanderzusetzen).
Aufgrund des hohen Anteils von Immigrant*innen im Ruhrgebiet widmeten sich also bereits die Vorgängerinstitutionen des Fachbereichs Angewandte Sozialwissenschaften der FH Dortmund diesem Thema. Die durchmischte Sozialstruktur im Ruhrgebiet war schon für den Initiator und ersten Direktor der Jugendwohlfahrtsschule für Männer, Friedrich Siegmund-Schultze, ein Grund, sein Vorhaben in der damaligen Arbeiter- und Industriestadt Dortmund umzusetzen (Siegmund-Schultze 1958: 2) und für uns Anlass uns näher mit der Thematik zu befassen.
Gründe für Migration
Zentrale Motive für die Migration sind die Suche nach der Arbeit, die Verbesserung der Lebensperspektiven und der Schutz vor Verfolgung. Hinzu kommt das Streben nach einem besseren Leben und einer aussichtsreichen Zukunft. Millionen von Menschen waren in der Vergangenheit und sind auch heute noch gezwungen, auszuwandern. Eine direkte Bedrohung durch Waffengewalt oder Naturkatastrophen sind die gravierendsten Gründe auszuwandern; hinzu kommen politische bzw. staatliche Repressionen ebenso wie wirtschaftliche Gegebenheiten, die den Betroffenen kaum Chancen auf eine zufriedenstellende Lebensgestaltung lassen (vgl. Treibel 2015, S. 24).
Entgegen der landläufigen Meinung war die Bundesrepublik von Anbeginn an ein Immigrationsland. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen – die meisten aus dem ehemaligen Ostpreußen. Obwohl es sich formal um deutsche Staatsbürger handelte, war ihre Integration in Anbetracht von Arbeitsplatzmangel und fehlendem Wohnraum logistisch wie sozialpolitisch schwierig. Bis Mitte der 1950er Jahre hatte sich die wirtschaftliche Lage ganz erheblich gewandelt: das rasche Wirtschaftswachstum, das ‚Wirtschaftswunder‘, hatte binnen weniger Jahre zu einem Arbeitskräftemangel geführt. Deshalb begann die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte, die beschönigend ‚Gastarbeiter‘ genannt wurden.
Anwerbeabkommen und migrationsbezogene Soziale Arbeit
Der Beginn der migrationsbezogenen Sozialen Arbeit in Deutschland ist auf die Rekrutierung der sogenannten ‚Gastarbeiter‘ zurückzuführen. Das erste Anwerbeabkommen wurde 1955 mit Italien abgeschlossen. In den Jahren 1960/1961 folgten weitere Vereinbarungen mit Ländern wie Spanien, Jugoslawien, der Türkei, Griechenland, Portugal und Marokko. Ursprünglich war ein dauerhafter Aufenthalt dieser Arbeitskräfte nicht vorgesehen, sondern sie sollten nach einer begrenzten Zeit in ihre Herkunftsländer zurückkehren und durch neue Arbeitnehmer ersetzt werden. Dieses sogenannte "Rotationsmodell" führte dazu, dass Unternehmen kontinuierlich neue Arbeitskräfte einarbeiten mussten. Aufgrund des Drucks von Arbeitgeberseite wurde im Jahr 1971 die maximale Aufenthaltsdauer verlängert (vgl. Polat 2017, S. 20). Zwischen 1959 und 1968 erhöhte sich die Anzahl der in Deutschland beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer von 166.000 auf etwa eine Million (vgl. Herbert 2003, S. 207). Während der Wirtschaftskrise 1973 wurde die Anwerbung von Fachkräften gestoppt und jene, die bereits in Deutschland lebten, mussten wählen, ob sie dauerhaft im Land bleiben oder in ihre Heimat zurückkehren wollten. Eine Vielzahl von ihnen entschied sich für einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland und holte ihre Familien nach (vgl. Polat 2017, S.20). Die Entwicklung verdeutlicht, dass die Migration kein temporäres Phänomen mehr war.
In den 1980er Jahren stieg die Zahl der Asylanträge erneut an, wobei viele Flüchtlinge aus Sri Lanka (Tamilen) sowie aus der Türkei, dem Iran und dem Irak (Kurden) kamen. Aufgrund der hohen Anzahl an Asylanträgen wurde in den 1980er Jahren über den "Asylmissbrauch durch Wirtschaftsflüchtlinge" debattiert, was vereinzelt zu ausländerfeindlichen Übergriffen führte. Infolgedessen wurde das Aufgabenspektrum der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter erweitert, zum Beispiel durch die Bereitstellung außerschulischer Unterstützung für die Kinder von Gastarbeitern (Hilfe bei Hausaufgaben, Sprachförderung). Ziel dieser Maßnahmen war es, die Chancengleichheit für ausländische Kinder im deutschen Bildungssystem zu verbessern (vgl. Gögercin 2018, S. 33f). In vergangenen Zeiten war das Thema Integration in politischen Debatten eher selten präsent. Häufig standen Aspekte wie Aufenthaltsrecht, Anspruch auf staatliche Hilfe und die sprachliche Eingliederung von Kindern im Vordergrund (vgl. Polat 2017, S.20).
Der Fokus der Sozialen Arbeit lag nun auf der Erleichterung der Integration ausländischer Arbeitnehmer*innen und ihrer Familien in den Bereichen Wohnen, Arbeitsmarkt und Bildung.
Rassistische Übergriffe
Bis zum Ende der 1980er Jahre sind etwa 1,5 Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik eingewandert. Zusätzlich zogen bis 1989 rund 150.000 Deutsche aus Osteuropa in die DDR, ohne jedoch dort einen speziellen Status zu erhalten. In den Jahren zwischen 1988 und 1998 kamen weitere ungefähr 2,5 Millionen Menschen hinzu, im Jahr 1992 erreichte die Migration mit etwa 440.000 Asylanträgen ihren Höhepunkt. Zu dieser Zeit stammten nahezu 75% der Asylsuchenden aus Osteuropa und Südosteuropa, darunter vor allem Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien sowie Menschen aus Rumänien und Bulgarien (vgl. Gögercin 2018, S.35). Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Probleme und hoher Arbeitslosigkeitsraten infolge der Wiedervereinigung führte die Vielzahl der Asylsuchenden zu einer angespannten Situation. Ihren traurigen Gipfelpunkt erreichte die Entwicklung mit rassistischen Angriffen wie den Brandanschlägen in Rostock-Lichtenhagen (1992), Mölln (1992) und Solingen (1993) auf Wohnungen von Asylbewerbern und Asylunterkünfte. 1993 verabschiedete das Parlament darum den sogenannten ‚Asylkompromiss‘, der das Grundrecht auf Asyl und die Einreisemöglichkeit nach Deutschland als Flüchtling mittels der Drittstaatenregelung stark einschränkte. Zudem wurden die Sozialleistungen für Asylsuchende reduziert. Infolgedessen ging die Zahl der Asylbewerber stark zurück (ebd.).
Von Ausländer*innen zu Menschen mit Migrationshintergrund
In den vergangenen Jahrzehnten hat Deutschland eine hohe Zahl an Einwanderern verzeichnet, von denen viele die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt haben. Demzufolge wurde 2005 der Begriff "Migrationshintergrund" eingeführt, da die bisherige Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern nicht mehr ausreichend war. Zur Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund gehören alle, die seit 1949 in das heutige Deutschland eingewandert sind, alle in Deutschland geborenen Ausländer*innen sowie alle in Deutschland geborenen Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, bei denen mindestens ein Elternteil eingewandert ist oder als Ausländer in Deutschland geboren wurden (vgl. Statistisches Bundesamt 2015).
"Flüchtlingskrise" ab 2015
Das Grundrecht auf Asyl wurde in Deutschland mit der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahr 1949 festgeschrieben (Art. 16 a Abs. 1 GG). Die Genfer Flüchtlingskonvention definiert anerkannte Flüchtlinge als Personen, die aufgrund ihrer politischen Überzeugung, Religion, Nationalität, Rasse oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden. Allerdings werden allgemeine Notsituationen wie Hungersnöte oder Umweltkatastrophen nicht als Asyl- oder Fluchtgründe anerkannt.
Im Jahr 2015 stand das Thema Migration im Fokus der Nachrichten, da eine große Anzahl von Menschen in Deutschland und einigen anderen EU-Ländern Zuflucht vor Krieg, Verfolgung und Not suchte. Im Jahr 2014 wurden in Deutschland ungefähr 202.000 Asylanträge eingereicht. Laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) waren bis Ende November 2015 insgesamt etwa 965.000 Personen in Deutschland als Asylsuchende registriert (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung). In den vergangenen Jahren stammte die größte Gruppe der Asylsuchenden aus Syrien, bedingt durch den dortigen Bürgerkrieg. Im Sommer 2015 lehnte die internationale Staatengemeinschaft die erforderliche Finanzierung ab, welche die UNHCR für die Versorgung der Flüchtlinge benötigte. Dies hatte verheerende Auswirkungen auf die Bedingungen in Flüchtlingsunterkünften im Libanon, Jordanien und der Türkei, woraufhin sich große Gruppen von Flüchtlingen auf den Weg machten. Zu den weiteren Herkunftsländern zählen unter anderem Afghanistan, Iran, Irak und einige afrikanische Länder wie Somalia, Nigeria, Eritrea und Ghana. Am 14. September 2015 entschieden Bundeskanzlerin Merkel und der österreichische Bundeskanzler Faymann, die Grenze zu öffnen (vgl. Tiedemann 2019, S.14). Daher erreichte die Anzahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden Ende 2015 mit etwa einer Million einen Höhepunkt, was zur sogenannten "Flüchtlingskrise" führte. Diese Situation brachte besondere Herausforderungen für die Sozialpolitik und Sozialarbeit mit sich. Programme wurden entwickelt, die darauf abzielen, Migrantinnen und Migranten bei der Etablierung eines neuen Lebens zu unterstützen (vgl. Gögercin 2018, S.37).
Rolle der Sozialen Arbeit
Sozialarbeiter*innen unterstützen anerkannte Geflüchtete in verschiedenen Bereichen. Dazu gehört die Hilfe beim Umzug in eine eigene Wohnung, die Orientierung im neuen Wohnumfeld und die Unterstützung bei der Beantragung von Wohnungseinrichtungen. Sie informieren auch über Vereinsstrukturen wie Sportvereine, Möglichkeiten zur Religionsausübung, und bieten Beratung zu finanzieller und sozialer Absicherung (z.B. Hilfe bei Anträgen nach dem AsylbLG, SGB II, etc., Widersprüche gegenüber Leistungsträgern, Erstberatung bei Schulden und Vermittlung an Schuldnerberatungsstellen und Rechtsanwälte). Des Weiteren geben Sozialarbeiter*innen Auskunft zu Fragen rund um Familie, Kindergarten und Schule, informieren über das deutsche Schulsystem und Möglichkeiten anschließender Ausbildung. Sie erklären das deutsche Bildungssystem und informieren Eltern über unterschiedliche Optionen. Zudem sorgen sie dafür, dass Kinder und Jugendliche die Schule und den Kindergarten besuchen können. Sozialarbeiter*innen befassen sich auch mit Arbeitsmöglichkeiten für Erwachsene und stehen in Kontakt mit dem Jobcenter. Sie sind zudem Ansprechpartner für Unternehmen hinsichtlich der Ausbildung von Geflüchteten und unterstützen bei Bewerbungsverfahren. Sozialarbeiter*innen sind auch für die Betreuung besonders schutzbedürftiger Geflüchteter zuständig, wie zum Beispiel Minderjährige, Menschen mit Behinderungen, ältere Personen oder solche mit schweren körperlichen Erkrankungen. Sie vermitteln Kontakte zu Fachdiensten wie Fachärzten, Psychotherapeuten, Selbsthilfegruppen oder Jugendämtern und fungieren als Ansprechpartner in beide Richtungen. Darüber hinaus bieten sie Unterstützung bei Themen wie Schwangerschaftsberatung, Eheschließung oder Scheidung. Auch die Hilfe nach fremdenfeindlichen Übergriffen, etwa durch Begleitung bei der Anzeigenerstattung oder Zusammenarbeit mit der Antidiskriminierungsstelle, sowie die Koordination und Begleitung ehrenamtlicher Helfer, gehören zu den Aufgabenbereichen der Sozialen Arbeit für Migrant*innen im Allgemeinen und insbesondere für Geflüchtete (vgl. Wartenpfuhl 2019, S. 64 ff.).
Mein Studium am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften – ein persönlicher Einblick
Die Flüchtlingskrise im Sommer 2015 habe ich, Ramadan Alkhalaf, selbst erlebt und möchte hier in diesem Beitrag für das 75. Jubiläum des Fachbereichs an der Fachhochschule Dortmund meine Geschichte erzählen und dadurch Studierende inspirieren. 2019 nahm ich am NRWege-Programm zur Integration von Geflüchteten und zur Internationalisierung von Hochschulen in NRW im Rahmen des DAAD teil, um meine persönlichen Erfahrungen zur FH Dortmund zu teilen. Ich habe 2019 einen Deutschkurs für Geflüchtete an der Fachhochschule Dortmund besucht und erfolgreich absolviert. In meiner Heimat in Syrien wollte ich immer Soziale Arbeit zu studieren. An die Fachhochschule Dortmund kam ich mit dem Ziel, meine Sprache zu verbessern. Ich bekam an der FH Dortmund viel Hilfe, konnte neue Leute treffen und meine Sprache verbessern. Obwohl ich damals 27 Jahre alt war, hat mich der Deutschkurs motiviert, weiterzumachen. Seit dem Sommersemester 2020 studiere ich Soziale Arbeit an der Fachhochschule Dortmund. Nach dem Studium will ich junge Geflüchtete unterstützen, damit sie einen besseren Zugang zur Bildung bekommen (vgl. Deutscher Akademischer Austauschdienst 2022).