Autor*innen: Sabrina Blendermann, Emilia Patron, Raphael Blömers
Jedes abgeschlossene Studium bringt ‚ein Haufen‘ an Erinnerungen mit sich. Unser Anliegen ist es den jeweiligen Zeitgeist einzufangen, der sich stets entwickelt und verändert, der Auswirkungen auf Politik sowie Gesellschaft hat und somit auch das studentische Leben beeinflusst. Als der heutige Fachbereich Sozialwissenschaften noch Jugendwohlfahrtschule für Männer hieß, war das Leben der Studenten vom vergangenen Krieg geprägt. Ein gesellschaftliches Wiederaufleben wie vor 1933 war der Wunsch großer Teile der Bevölkerung. So auch von Wilhelm Seehase, unserem ältesten Interviewpartner: Er war Student der Wohlfahrtsschule, die ab 1952 Sozialpädagogisches Seminar genannt wurde. Wie viele andere verfolgte er das Ziel, für die Gesellschaft etwas zu leisten und dabei zu helfen, dass es im sozialen Bereich besser wird (vgl. Wilhelm Seehase, 2022, Min. 12:15).
Bei der Wohnsituation der Studierenden in den 1950er Jahren gab es große Unterschiede. Ein großer Teil der Studierenden konnte in einer internatsmäßigen Unterbringung wohnen. Friedrich Siegmund-Schultze, der Gründer der Jugendwohlfahrtsschule, baute die an die Schule angeschlossene Wohnungsgemeinschaft mit auf (vgl. Wilhelm Seehase, 2022, Min. 10:15). Wilhelm Seehase, der sich selbst als Fahrstudent bezeichnete, übernachtete gelegentlich in diesem Haus. Zumeist nutzte er jedoch die Zugverbindung von Dortmund nach Münster, wo er zu Hause bei seinen Eltern lebte. Dank finanzieller Unterstützung hinsichtlich der Fahrtkosten wurden andere Mehrkosten wie für Unterbringung oder Verpflegung gespart.
1960er und 1970er Jahre
Die folgenden 1960er und 1970er Jahre sind vor allem bekannt durch Streiks und Demonstrationen. „Aber von aktiven Streiks, also wir sind da nicht im Bett liegen geblieben, sondern sind genauso um 08:00 Uhr zu den Hörsälen gegangen“, so Georg Deventer, der Ende der 1960er Jahre sein Studium begann (ebd., 24.01.2023, Min. 07:29). Deventer, ein sehr engagierter Student, war Mitbegründer der so genannten Roten Zelle Sozialarbeit. Ein Zusammenschluss von Studierenden, die die „Ursache allen Übels zu beseitigen“ versuchten (vgl. ebd., Min. 09:35). Wie viele andere Studierende zu der Zeit verstand er sich nicht mit allen Dozierenden. Er nutzte einmal kurzerhand den Flügel in den Räumlichkeiten des mittlerweile alten Standorts der FH und komponierte ein Lied, welches einem bestimmten Dozenten gewidmet war. Das Lied trug den Titel „Nieder mit XXX!“ (vgl. Deventer, 24.01.2023, Min. 10:15 - anonymisiert). Die Streiks, Proteste und Demonstrationen, die nicht nur an der FH oder in der Stadt Dortmund, sondern in der ganzen Bundesrepublik stattfanden, hatten zur Folge, dass sich die finanzielle Lage der Studierenden erheblich verbesserte. Die ausschließliche Abhängigkeit vom Einkommen der Eltern wurde abgeschafft und das bis heute genutzte Bafög eingeführt – allerdings als Stipendium, nicht (wie aktuell) als Kredit. „Die Bedingungen waren natürlich hervorragend, [insbesondere] dass wir alle Knete kriegten“ (vgl. Georg Deventer, 24.01.2023, Min 15:51). Es sei eine ganz wichtige Voraussetzung gewesen, nicht jobben zu müssen berichtet er weiter. „Deshalb konnten wir auch exzessiv studieren und demonstrieren. Wir hatten einfach Zeit“ (vgl. ebd., Min. 16:43). Die zeitlichen Mittel wurden vorrangig genutzt, um sich mit Kommilitonen zu treffen. „Drei Kneipen hatten wa, das war unglaublich.“ Gemeint sind Kneipen an der Lindemannstraße/Kreuzstraße im Kreuzviertel. Heutzutage ausschließlich als Gaststätten genutzt, galten die Kneipen damals unter anderem als der Treffpunkt um im Hinterzimmer zu zwölft oder mehr, Konzepte zu schreiben. (Georg Deventer, 24.01.2023, Min. 01:11:42). Die Konzepte drehten sich meist um gesellschaftspolitische Themen. Auch wenn das Essen, welches man für die Woche von der Familie bekam, knapp wurde, half der Wirt mit Toastbrot aus, so beschreibt es Georg Deventer (vgl. ebd.).
Während die einen auf die Straße gingen, um für bessere Studienbedingungen zu protestieren, nutzten andere die Streiktage, um andere Freizeitaktivitäten zu unternehmen. „Ein Freund und ich, wir sind dann an einem Streiktag ins Wellinghofer Freibad gefahren und haben uns da vergnügt. Wir haben an Inhalte überhaupt nicht gedacht“ (Karl-Josef Schulz, 24.01.2023, Min. 11:57).
1980er Jahre
Die 1980er Jahre an der FH Dortmund verliefen im Vergleich zum Vorjahrzehnt ein wenig ruhiger. Der Umzug an die Emil-Figge-Straße stand an, welcher aber zugleich Bedauern bei den Studierenden auslöste. Der Charm des alten Gebäudes und die angenehme, familiäre Atmosphäre an der Hohen Straße waren vergangen, so beschreibt es Heike Kastel, die 1985 bis 1989 an der FH studierte (vgl. ebd., 02.05.2023, Min. 03:55). Der neue Standort, der am 25. November 1986 offiziell eingeweiht wurde, musste nun mit dem Fachbereich Wirtschaft sowie der Universität Dortmund und der Hochschule für Musik Detmold geteilt werden (vgl. fh-dortmund.de). Nichtsdestotrotz wurde versucht, sich den Alltag am Campus so angenehm wie möglich zu machen. Die Grünflächen direkt vor dem Gebäude waren hilfreich; sie wurden vor allem im Sommer, nicht nur als Freizeitorte, sondern hin und wieder auch als Orte für Seminare genutzt. „Die Mensa fand ich schebbig […] Bücher musste man sich ja immer in der Bibliothek irgendwie ausleihen, aber das waren keine Wohlfühlorte“ (vgl. Heike Kastel, 02.05.2023, Min. 08:05). So vermissten die Studierenden den alten Standort an der Hohen Straße an dem sie nicht nur studierten, sondern auch gelegentlich Partys feierten, die von der Studierendenvertretung organisiert wurden, fügt Heike Kastel hinzu. (vgl. ebd., Min. 08:10).
Im Gegensatz zu den 1970er Jahren, in denen für bessere Studienbedingungen und finanzielle Unterstützung während des Studiums demonstriert wurde, sollten die Proteste in den 1980er Jahren einem anderen, globalen Thema gelten: „Damals war die Friedensbewegung ganz aktiv, wir sind dann immer mit den Taubenaufklebern und gegen die Atomkraft rumgelaufen. Andere Studierende haben Busse organisiert, damit man gemeinsam zu Friedensdemos fahren konnte. Das haben wir aus Überzeugung gemacht, aber auch weil´s lustig war“ (Heike Kastel, 02.05.2023, Min. 09:29).
Ein Nato-Manöver im Jahr 1983 löste Furcht vor einem möglichen Atomkrieg aus. Hinzu kam die Nuklear-Katastrophe im ukrainischen Atomkraftwerk in Tschernobyl am 26. April 1986 (vgl. lpb-bw.de). „Es war schon eine innere Angst, die wir alle hatten vor den Nuklearwaffen“, erinnert sich Heike Kastel (vgl. ebd., 02.05.2023, Min. 09:52).
1990er Jahre
Anfang der 1990er Jahre hatte sich das Mensaessen noch nicht verbessert. Auch der Campus war für die meisten weiterhin kein Wohlfühlort. „Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir uns so wahnsinnig viel hier aufgehalten hätten“ so Marie-Luise Bergmann. Sie vergleicht mit den heutigen Bedingungen: „Das Mensaessen war viel schlechter. Das war wirklich gruselig und wenn man da gegessen hat, hatte man immer das Gefühl, man hätte einen Ziegelstein verdrückt“ (ebd., 02.05.2023, Min. 54:56, 55:17). Marie-Luise Bergmann, die heute als Lehrende an der FH Dortmund tätig ist, studierte von 1989 bis 1993. Was sich seit den vorherigen Jahrzehnten nicht geändert hatte, war die Atmosphäre in den Seminaren. „Das hatte noch son alt 70er Charme, obwohl es Anfang der 90er war“ (Katja Nowacki, 24.04.2023, Min. 10:21). Die heutige Dekanin und Lehrende der FH Dortmund studierte zur gleichen Zeit wie Marie-Luise Bergmann.
„ […] wenn ich mich recht erinnere, hat man sogar in den Seminaren teilweise noch geraucht, ja, da gabs Leute, die mit Hunden dasaßen, mit Kindern die gestillt wurden, also das war alles noch sehr bunt und ich habe noch viel gestrickt“ (Katja Nowacki, Datum, Min. 10:05).
Anstatt sich mit dem Smartphone abzulenken, beteiligte man sich engagiert an Diskussionen. „Es war lebendiger, man hat viel mehr diskutiert, auch kontrovers“ (Marie-Luise Bergmann, 02.05.2023, Min. 59:27). „[…] politische Themen wurden immer heiß diskutiert“ (Katja Nowacki, 24.04.2023, Min. 10:40). Neben ‚qualmenden‘ Seminarräumen und kontroversen Diskussion gab es auch gelegentlich weitläufige Exkursionen.
„Es gab ein Seminar mit Karl Heinz Stiefer, der hat Gesprächsführung angeboten als Psychologe, und da sind wir als kleine Truppe zu einem kleinen Häuschen in der Nähe von Brügge gefahren und haben da Gesprächsführungsseminar gemacht“ (Marie-Luise Bergmann, 02.05.2023, Min. 56:46).
Damals wie heute gab es schon Partys und die Einführungswoche, woran sich Katja Nowacki noch sehr lebendig erinnern kann. „[…] da habe ich eine meiner besten Freundinnen damals kennengelernt und deswegen setze ich mich immer noch so für die Einführungswoche ein, weil ich fand das damals klasse“ (vgl. ebd., Min. 08:06). Die Woche dient dazu, erste Kontakte zu knüpfen oder gegebenenfalls Gleichgesinnte kennenzulernen.
„Es gab die Bienchen und Bärchen Fraktion. Die einen waren eher so mit Kindern und die waren so ein bisschen süß und haben die niedlichen Sachen gemacht. Und dann gab es eher die Leute, wie gesagt Sozialpädagogik, die machten eher so Spiele wie Frau Kusenberg, Spielseminare und so. Und dann gabs noch die anderen, Suchthilfe, ein bisschen cooler, ein bisschen härter und dann eben auch […] die Theaterarbeit“ (Marie-Luise Bergmann, 02.05.2023, Min. 55:41).
Die Frage bleibt offen, wo die Gruppen sich aufgehalten haben. Auch Anfang und Mitte der 1990er Jahre gab es an und in der FH Dortmund wenig Gelegenheiten dazu. Es gab weder die Kostbar, noch die sogenannte food fakultät. Katja Nowacki kann sich erinnern, dass es eine Mini-Cafeteria mit wenig und kleinen Tischen gab, die – wie nicht anders zu erwarten – immer besetzt waren (vgl. ebd., Min. 08:51). Jedoch stellte sich dieser Ort als ein guter Treffpunkt und Aufenthaltsort für Wartezeiten heraus. Wie viele Studierende damals und heute ist Frau Nowacki gependelt. Im Wintersemester 1992/1993 konnten sich Pendlerinnen und Pendler freuen. Das erste Semesterticket für das gesamte Streckennetz des VRR angeboten. Der Preis lag damals bei 14 Mark im Monat (vgl. fh-dortmund.de). Zur Verlässlichkeit der S1 hat es nicht beigetragen. Sie wurde beispielsweise von Volker Görtz (Studienbeginn 1993) nur im Notfall genutzt, wenn es ganz schlimm geregnet hat und er nicht mit seinem Motorradgespann anreisen konnte (vgl. ebd., 02.05.2023, Min. 06:35).
So unterschiedlich wie die vermeintliche Aufteilung in Bienchen- und Bärchen-Fraktion, waren auch die sozialen Mittelpunkte der Studierenden in den 1990er Jahren. Die einen erinnern sich gut an gefeierte Partys sowie viele amüsante Stunden mit Mitstudierenden. Andere kamen ausschließlich zum Studieren und blieben aufgrund eines anderen Wohnortes oder mangels Zeit und Interesse der FH fern. Der Zeitmangel war auch dem Geldmangel geschuldet. Marie-Luise Bergmann hatte beides im Blick. „Ich weiß noch, ich habe trotzdem wenig ausfallen lassen, auch wenn ich mittwochs nachts um 01:00 Uhr in der Kneipe gekellnert habe und morgens um 09:00 Uhr war ich aber hier“ (ebd., 02.05.2023, Min. 11:34).
Die fortschreitende Digitalisierung erreichte die FH Dortmund: Im Jahr 1996 gab es zum ersten Mal Zugriff auf die Website der FH Dortmund. Auch wenn sie zunächst lückenhaft war, informierte sie über Studiengänge und die Hochschule. Bereits ein Jahr später stand den Studierenden ein elektronisches Postfach zur Verfügung. Nicht nur das Internet lenkte das Studium in andere Dimensionen. Das Jahrhundert endete mit einer Umstellung des Studienabschlusses. Im Jahr 1999 einigten sich die EU-Bildungsminister:innen in Norditalien auf eine einheitliche akademische Ausbildung. Unter dem Stichwort Bologna-Prozess wurden Diplomstudiengänge durch Bachelor und Master ersetzt (vgl. fh-dortmund.de).
2000er Jahre
Die rasante Entwicklung der Informationstechnologie erweist sich als charakteristisch für den Beginn des 21. Jahrhunderts: seit 2004 besteht das WLAN-Netz an der FH Dortmund und im Wintersemester 2005/2006 wurden die erste digitale Bewerbung möglich. Zugleich wurden die Lebensläufe und Altersunterschiede der Studierenden gemischter. Frank Maier, der 2008 sein Studium startete, erinnert sich „da waren sehr viele auch ältere Leute, die schonmal irgendwie ‘ne Ausbildung gemacht haben“ (ebd., 16.05.2023, Min. 04:50). Die digitale Eintragung für Seminare, wie es heute der Fall ist, gab es noch nicht. Dies führte teilweise zu räuberischen Aktionen. „Man musste halt noch diese Eintragungen an den Türen machen, wenn man irgendwo in ein Seminar kommen wollte und diese Listen wurden ab und zu geklaut“ (vgl. ebd.). Die Gestaltung des Studiums wird immer individueller. Geprägt vom Wohnort, Interessen und Alter. Doch schon in den 1970ern galt für Georg Deventer das Studium als die schönste Zeit des Lebens (vgl. ebd., Min 16:43). So auch für Frank Maier vor nicht allzu langer Zeit. „Also ich habe 10 Jahre studiert. Aber nie im Sommersemester, da war ich immer viel unterwegs“ (ebd., Min. 01:42). Im Jahr 2020 gab es jedoch einen erheblichen Einschnitt in das Leben der Studierenden. Wie sich alle erinnern können, stand die Welt wegen der Corona-Pandemie kurzerhand still. Vorlesungen gab es nur noch zu Hause, online, jeder für sich, vor seinem Bildschirm. An ein studentisches Leben war nicht zu denken. Die einen haben die Zeit genutzt, um dem Bachelor-Abschluss näher zu kommen. Die anderen haben sich gesehnt nach Freiheit und Ausgelassenheit. Geholfen hat die Krise vermutlich nur dem Fortschritt der Digitalisierung. Im Jahr 2022 jedoch durften sich alle Studierenden freuen und an den Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften an der Emil-Figge-Straße 44 zurückkehren, um wieder gemeinsam etwas zu erleben, Dinge zu bewegen, zu philosophieren und zu diskutieren.