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75 Jahre Soziale Arbeit in Dortmund

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Soziale Arbeit im Wandel der Zeit

Soziale Arbeit im Wandel der Zeit

Autorin: Sabine Mürköster

Der folgende Beitrag stellt anhand von charakteristischen Zitaten aus der zeitgenössischen Fachliteratur und oral-history-Interviews dar, wie sich das Bild der Sozialen Arbeit im Laufe der letzten 75 Jahre gewandelt hat. Den Duktus des jeweiligen Jahrzehnts einzufangen und zeitspezifische Ausdrücke zu suchen war bei der Sichtung des Quellenmaterials das Hauptanliegen. Zudem sollen die gesammelten Zitate einen Verweis auf die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Situationen liefern. Am Beginn der Zitate-Sammlung steht ein Zitat des Gründungsdirektors der Dortmunder Jugendwohlfahrtsschule für Männer, Friedrich Siegmund-Schultze. Sein Bestreben lag 1948 darin, den Wirren und Nachwehen eines Krieges aktiv entgegenzutreten, welcher ihn selbst ins ausländische Exil gezwungen hatte. Es ging ihm um die Überwindung des Klassenhasses, ebenso wie um die Durchsetzung eines waffenlosen Friedensgedankens (Schruba 2000, S. 17). Dabei stellte der Wiederaufbau der Wohlfahrt nach Zusammenbruch der NS-Wohlfahrtspflege in einem stark zerstörten Land, indem es zunächst um reine Nothilfe ging, eine immense Herausforderung dar. Man versuchte hierbei an Strukturen anzuknüpfen, die zuletzt in der Weimarer-Republik entwickelt wurden. Die Entnazifizierung durch die Alliierten war nicht über Nacht zu bewältigen, sondern zog sich bis in die 1970er Jahre hinein (Münchmeier und Hering 2014: 207).

Staatsbürgerliche Erziehung

Siegmund-Schultze nutzte den Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung. Dieser lässt auf eine paternalistische Denkweise schließen, die zu jener Zeit und bis hin zum Umbruch in den 1970er Jahren gängige Praxis in der Sozialen Arbeit war. Die Pädagogik war zu dieser Zeit immer noch repressiv und autoritär geprägt (Münchmeier und Hering 2014: 229). Siegmund-Schultze sah seinen Auftrag in der Erziehung zum demokratischen und internationalen Denken (Schruba 2000, S. 37). Dietmar Freier, der unter Siegmund-Schultze seine Ausbildung zum Jugendwohlfahrtspfleger absolvierte und später als Dozent bis zu Zeiten der Gründung der FH Dortmund tätig war, baute am Werk von Siegmund-Schultze weiter. Seine Ideen und Schriften sind über die Dietmar-Freier-Stiftung (www.dietmar-freier-stiftung.de) zugänglich, deren Gründung er nicht mehr erlebt hat. Freier nimmt in seinen Aussagen vor allem Kinder und Jugendliche, als Adressat*innen Sozialer Arbeit in den Fokus. Soziale Arbeit hat u.a. den Auftrag die „leibliche, geistige und gesellschaftliche Ertüchtigung des jungen Menschen“ (Siegmund-Schultze 1949/50: 263f.) zu erfüllen. Diese Wortwahl lässt den Duktus der noch nahen Nachkriegsjahre erahnen. Sein Wirken gesellte sich in eine Zeit, die bald geprägt war vom wirtschaftlichen Aufschwung, den sogenannten fetten Jahren mit einer Arbeitslosenquote von zeitweise 0,7% (Münchmeier und Hering 2014: 212/235).

In seinen späteren Schriften der 1960er und 1970er Jahre versucht Dietmar Freier die Notwendigkeit Sozialer Arbeit in einen vom Wirtschaftsboom profitierenden Wohlfahrtsstaat zu rechtfertigen, indem er genau diesen als Grund für aufkommende Probleme sieht. Mehr Freiheiten und ein höherer Lebensstandard bringen seiner Meinung nach nicht nur Gutes mit sich (Freier 1966: 16). Da mutet es auch nicht verwunderlich an, dass er die revolutionären sechziger Jahre, die zu mehr Demokratie innerhalb der Hochschule führten als eher anstrengend bezeichnete (Freier 1966: 34, in Schruba 2000). Ihren Ausgang nahmen die politischen Unruhen im Bildungsnotstand der 60er Jahre. Die daraus resultierende Studentenbewegung veränderte die Gesellschaft nachhaltig. Es folgte eine zunehmende Radikalisierung der politischen Landschaft (Münchmeier und Hering 2014: 235).

Studentenbewegung

Mit Beginn der Studentenbewegung zur Reform konservativer und elitärer Strukturen wird auch in der Fachliteratur der Ton um einiges schärfer. Vor allem antikapitalistische Aussagen finden Eingang. Die Ausdrucksweise des Soziologen Walter Hollstein zeigt das in eindrucksvoller Form: „Gott stinkt, die Farbfernseher zeigen die Scheiße nur noch farbig, und mit Sportwagen kommt man nur schneller dorthin, wo man doch eigentlich gar nicht sein wollte. „Freiheit ist Konsumzeit“, dekretieren die Soziologen der Industrie. Freiheit wird so zum Gegenteil von Freiheit. Die Superindustrie macht so den Menschen zum Kakozephagen, der die Scheiße auch noch frißt, die er produzieren muß – Werbung und Presse üben den Konsum ein[...]“ „[…] diese ganze Industrie, das merkt selbst der blödeste Gesunde, ist für Süchtige gemacht […]“ (Hollstein 1973, in: Kuhlmann 2008: 145)

Solch ein scharfer und fast schon vulgärer Ton ist heutzutage in der Fachliteratur sicherlich nicht mehr denkbar. Auch die Bezeichnung des Verwaltungsangestellten als „Fritzen“ (vgl. Baron u.a. 1978: 158) würde heutzutage nicht in offizieller Form vorkommen. Aber es ist ein prägnantes Beispiel für die aufrührerische Zeit des Umbruchs mit ihrer Kritik an konservativen, bürokratischen, steifen Strukturen. Die Soziale Arbeit wurde politisiert. Es wurden neue Ideen, wie die der Antiautoritären Erziehung aufgegriffen und die Gemeinwesenarbeit wurde ausgebaut (Münchmeier und Hering 2014: 237). Auch Georg Deventer, ein Absolvent der frühen 1970er Jahre, hat sehr lebhaft im Interview über diese Zeit des Aufbruchs und der experimentellen Praxis berichtet. So erzählt er, dass das Studium zu dieser Zeit von aktiven Streiks geprägt war und man in Organisationen wir der „Roten Zelle sozialer Arbeit“ intensiv diskutierte, um der „Ursache allen Übels“ auf den Grund zu gehen. Eine Auswahl der spannenden Aussagen von Herrn Deventer finden sich im Anhang dieses Aufsatzes. Die 1970er und 1980er Jahre waren geprägt durch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Ölkrise. Durch den aufkeimenden Neoliberalismus wurde in den 1990ern der Abbau des Wohlfahrtsstaates eingeläutet. Freier Markt, Marketing, Wettbewerb, Dienstleistungen und der Kundenbegriff sind bezeichnende Ausdrücke jener Zeit. Auch Dietmar Freier stellt fest, dass diese unmittelbare Auswirkungen auf die traditionellen Sozialen Dienste haben, die um ihre Daseinsform kämpfen müssen (Freier 1989: 43). Nicht zuletzt die Wende und die deutsche Wiedervereinigung bringen Herausforderungen auf beiden Seiten mit sich. Dietmar Freier erkennt die umfassenden sozialen Konsequenzen in ihren verschiedenen Dimensionen für die Bürger der ehemaligen DDR (Freier 1991: 46). Diese Menschen mit ihren Sorgen und Ängsten aufzufangen und ein neues Netzwerk Sozialer Arbeit in den neuen Bundesländern zu etablieren, war sicher eine große Herausforderung. Die Liberalisierung des Marktes hat unmittelbaren Einfluss auf die Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit. Betriebswirtschaftliches Denken ist mehr denn je gefordert und es muss sich mit Qualitätssicherungsmaßnahmen zur Effizienzsteigerung auseinandergesetzt werden. Gemeinnützige freie Träger geraten immer mehr durch private Anbieter in Bedrängnis. Es geht vor allem um Effizienz. Diese wird auch in neuen Bewertungsverfahren gemessen. Effektivität wird so nebensächlich. Betriebswirtschaftliche Prämissen sind daher nicht mit denen der Sozialen Arbeit vereinbar (Münchmeier und Hering 2014: 242f). Franco Rest, ein ehemaliger Dekan des Fachbereichs 8, hält zum 50-jährigen Jubiläum der Sozialen Arbeit in Dortmund einige prägnante Stichworte zu dieser Zeit bereit. Er bemerkt die zunehmende Internationalisierung und befürchtet den Verlust ethischer Prämissen aufgrund des anschwellenden Drucks der Ökonomie. Er erkennt, dass kaltes Management keinen Platz für Werte und Haltungen vorsieht und dass gerade deshalb die Soziale Arbeit mehr denn je gefragt ist, entschieden gegen den Verlust von Werten vorzugehen (Rest in: Schruba 2000: 21). Keine leichte Aufgabe in einer Zeit, in der es für die Absolvent*innen der Fachhochschule, wie Frau Klamt im Interview festhält, kaum Arbeitsangebote auf dem Markt gibt. Die berufliche Unsicherheit mit wenig Aussichten auf Festanstellung spiegeln den damaligen Abbau des Wohlfahrtsstaates wider. Auch ihr Kommentar zur Geringschätzung und schlechten Bezahlung verweist auf das damalige geringe Ansehen Sozialer Arbeit. Über die aktuelle Situation hält sie die überbordende und zeitraubende Dokumentation als negatives Phänomen unserer Zeit fest. Positiv bemerkt sie, dass sich die Arbeitsmarktsituation ins gegenteilige verkehrt hat und heutige Absolvent*innen der Fachhochschule die Wahl haben, in welches Arbeitsfeld sie einsteigen möchten. Das bewirkt bei jungen Sozialarbeiter*innen ein positiveres und selbstbewussteres Bild des Berufsstandes. Dieses kann jedoch auch mit der, in den letzten fünf Jahrzehnten fortscheitenden, Professionalisierung Sozialer Arbeit zusammenhängen. So bemerkt Marie-Luise Bergmann im Interview beispielsweise folgendes: „Ich glaube schon, dass sich der Anspruch verändert hat. Wenn ich mir Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis anschaue merke ich, dass der Professionalitätsanspruch gestiegen ist. Ich glaube auch, dass wegen der zunehmenden Verwissenschaftlichung das Selbstbewusstsein gestiegen ist, zurecht.“ (Marie-Luise Bergmann, Dozentin des FB 8)

Diese Aussage schafft die Überleitung zu dem Roll-Up der Professionalisierung der Sozialen Arbeit, welches mit Marie-Luise Bergmanns Zitat abschließt. Der zugehörige Katalogbeitrag folgt nach dem Anhang des ersten Beitrags.