Anmerkungen zum Umgang mit den Konflikten und Kriegen im Nahen Osten
Seit über 12 Jahren bin ich mit Herzblut Hochschullehrer, lehre gerne im Hörsaal, mag auch kontroverse Diskussionen und leidenschaftlich geführte Debatten. Sie sind für mich Bestandteil guter Lehre ebenso wie der Demokratiebildung. Ein einziges Mal hatte ich in den letzten Jahren ein nicht zu unterdrückendes Angstgefühl, als ich früh morgens zum Hörsaal ging. Das war am Montag nach dem 7.10.2023 – dem Tag, als die Hamas ihren barbarischen Angriff startete. Mir war klar: die Studierenden erwarten zu Recht Orientierungen, Einordnungen und vielleicht auch Raum, um ihre Meinungen, Blickwinkel und Emotionen zu sortieren. Und mir war auch klar: da werden sehr unterschiedliche Sichtweisen, biographische Bezüge und Narrative aufeinanderprallen. Hinzu kommt, dass ich kein Nahostexperte bin. Mit den dortigen Konfliktlagen bin ich zwar grob vertraut; aber ich habe dazu nicht geforscht, nicht alles gelesen, was ich kennen müsste, und habe auch eigene biographische Bezüge, die ich nicht ignorieren kann. Wie sollte das somit gelingen?
An dem Montag haben die Studierenden es mir einfach gemacht. Sie wollten verstehen, was passiert ist. Sie gingen vorsichtig miteinander um und wollten einander keine Wunden schlagen. Zu spüren, war aber auch hier die Angst – Angst, etwas Falsches zu sagen, Angst, sich festzulegen, den falschen Begriff zu wählen und womöglich wahlweise als „antisemitisch“ oder „rassistisch“ abgestempelt zu werden.
Unsicherheit im Umgang mit dem Konflikt im Nahen Osten
Über ein Jahr später ist die Unsicherheit im Umgang mit dem Konflikt im Nahen Osten an der Hochschule nicht gewichen. Eher im Gegenteil: Es brodelt im Untergrund und im Privaten. Viele sprechen nur im engsten Freundeskreis aus, was sie darüber denken oder was sie sich fragen. Im öffentlichen Raum trauen sich nur wenige, sich zu positionieren. Hin und wieder findet es Raum in Seminaren und kann dort auch ruhig besprochen werden. Trotzdem ist zu spüren, dass da der berühmte Elefant noch im Glaskasten Hochschule tanzt und immer wieder macht er sich bemerkbar. Der Blick fällt auch auf andere Hochschulen und die dortigen Konflikte, Besetzungen, offenen Briefe und politischen Direktiven. Es ist ein lautes, brodelndes Schweigen – eher explosiv denn souverän und damit wenig hochschultauglich.
Leitplanken für entsprechende Diskussionen an Hochschulen
Es ist somit immer noch Zeit, Leitplanken für entsprechende Diskussionen an Hochschulen zu definieren. Mein Diskussionsvorschlag dazu lautet wie folgt:
Hochschule ist kein Ort, der vor Meinungen, sondern die Meinungsfreiheit schützt. Diese hat für mich zwei Grenzen: Die eine definiert der Rechtsstaat und die andere die Menschlichkeit. Menschenfeindliche Ideologien und Aussagen haben auch dann keinen Platz an der Hochschule, wenn sie unterhalb der Schwelle rechtsstaatlicher Verfolgbarkeit liegen.
Meine Hochschule liegt im Ruhrgebiet und die Studierenden sind so vielfältig wie der Pott selbst. Hier treffen sich somit junge und ältere Menschen mit unterschiedlichen Religionen, familiären Bezügen, sexuellen Identitäten und politischen Einstellungen. Das führt auch dazu, dass hier z. B. jüdische Studierende mit familiären Bezügen zu Israel mit muslimischen Studierenden mit familiären Bezügen zu Gaza oder dem Westjordanland gemeinsam lernen und diskutieren. Oft informieren sie sich über die Konflikte im Nahen Osten aus völlig unterschiedlichen Quellen und kennen kaum vereinbare Narrative und Deutungen zum aktuellen Geschehen. Die prallen dann in der Hochschule im Zweifel auch mit emotionaler Wucht aufeinander – oder werden eben mühevoll verschwiegen und umgangen.
Studierende erwarten einen inhaltlichen Rahmen
Was ist nun meine Antwort darauf? Zunächst ist sachliche Aufklärung zentrale Aufgabe der Hochschule. Hinzu kommt die Vermittlung methodischer Instrumente und Theorien, um Konflikte systematisch analysieren zu lernen. Unterschiedliche Deutungen sind dabei sowohl erwünscht als auch erwartbar. Zu Recht erwarten die Studierenden aber auch einen inhaltlichen Rahmen. Für mich sieht der wie folgt aus:
Die elementaren Menschenrechte und das Völkerrecht sind bei mir zentrale Richtschnüre für Bewertungen. Sie gelten für alle Menschen und mit ihrer Hilfe kann Kritik konkret formuliert werden. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist z. B. ein elementarer Bestandteil des Völkerrechts und gilt für Israelis wie für Palästinenser. Beide haben ein Recht auf Staatlichkeit. Wird dieses in Frage gestellt, ist das zu kritisieren. Im Falle Israels kommt noch der unmittelbare Bezug der Staatsgründung zum Holocaust sowie das jüdische Selbstverständnis hinzu. Wer das Existenzrecht Israels bestreitet, handelt in der Regel auch antisemitisch. Gleichzeitig hat auch die palästinensische Seite ein Recht auf Schutz, Sicherheit und Kultur. Positive Bezüge zur palästinensischen Seite oder zur palästinensischen Kultur und deren Wunsch nach Entfaltung und Schutz sind nicht automatisch gegen Israel oder gar gegen das Judentum gerichtet. Für einen schweren Fehler halte ich auch die Tendenzen, die angesichts der drastischen Bilder doch nur verständlichen Emotionen keinen Raum zu geben. Der Schmerz der palästinensischen Mutter über ihr verlorenes Kind ist genauso tief wie der der israelischen Mutter, die den Tod ihres Kindes beweint. Beide verdienen Gehör und Empathie. Menschlichkeit und Humanität in einem umfassenden Sinne sind gerade dann, wenn Worte versagen und um Haltungen und Positionen gerungen wird, noch immer eine verlässliche Basis für eigene Bewertungen.
Die Menschenrechte und das Völkerrecht erlauben die Formulierung expliziter Kritik am Handeln politischer Akteure
Es ist auch kaum zu überschätzen, wie überwältigend die ungefilterten Bilder auf viele Studierenden wirken. Hier reißen Wunden auf, die längst verheilt zu sein schienen. Bei geflüchteten Studierenden kommen Kriegserinnerungen hoch. Vor allem bei muslimischen Studierenden erlebe ich aber auch zunehmend eine neue Hilflosigkeit. Sie sind unsicher, ob und wenn ja, wie sie sich solidarisch mit der palästinensischen Bevölkerung zeigen können, ohne wahlweise als israelbezogen antisemitisch bezeichnet oder in die geistige Nähe der von ihnen abgelehnten Hamas gerückt zu werden. Sie diskutieren unter sich, inwieweit sie überhaupt in diesem Land erwünscht sind. An dieser Stelle vermischen sich auch die Einflüsse. Viele fühlen sich in ihrer Positionierung zum Konflikt im Nahen Osten wenig wertgeschätzt und reagieren gleichzeitig auf rassistische Diskurse in der Mitte der Gesellschaft und der sie tragenden Parteien sowie auf die Wahlergebnisse einer rechtsextremen Partei im Osten. Alles zusammen trägt dazu bei, sich nicht anerkannt und zunehmend unerwünscht zu fühlen. Auch darauf ist im Hörsaal zu reagieren.
Mir ist dabei wichtig: Die Menschenrechte und das Völkerrecht erlauben die Formulierung expliziter Kritik am Handeln politischer Akteure. Diese Maßstäbe sind wiederum unteilbar und an ihnen müssen sich alle Seiten messen lassen. Menschenrechtsverletzungen dürfen auch nicht mit dem Hinweis auf den jeweils anderen relativiert werden. Es macht auch keinen Unterschied, ob sie von demokratisch legitimierten Akteuren oder von autoritären Regimen ausgehen. Demokratien erlauben allerdings die Kritik und öffentliche Debatte im eigenen Land – autoritäre Regime begegnen dieser wiederum mit Gewalt. Der Kontext ist somit verschieden – das ändert aber an der Menschenrechtsverletzung an sich nichts.
Umgang mit konkreten Vorwürfen schwierig
Schwierig ist der Umgang mit konkreten Vorwürfen. Dazu gehört z.B. die Deutung von palästinensischer Seite das israelische Verhalten im Gazastreifen als Genozid zu bewerten. Ich widerspreche dieser Deutung, wenn ich sie höre, und erkläre einerseits die juristischen Kriterien des Begriffs, seine Geschichte und andererseits die Gefahr, mit einem inflationären Gebrauch bisherige Genozide zu relativen und deren Opfern damit nicht gerecht zu werden. Gleichzeitig prüfe ich aber auch, wer mit dem Begriff warum operiert. Geschieht dies aus Unwissenheit, aus emotionaler Überwältigung angesichts der Bilder und Todeszahlen oder als Mittel politischer Überzeugungen z. B. in der Unterstützung von Hamas-Strukturen? Dies ändert nichts am inhaltlichen Widerspruch, hilft mir aber bei der Einordnung des Gesagten und eröffnet mir unterschiedliche Umgangsstrategien.
Angst hemmt jeden demokratischen Diskurs
Mir helfen diese Basics heute im Hörsaal. Das ändert nichts daran, dass ich auch weiterhin kein Experte für das Thema bin und sein werde. Ich vermeide daher auch größere Festlegungen. Wer müsste ich sein, um mir abschließende Urteile zuzutrauen? Es wartet im Nahen Osten auch niemand auf meine Deutung. Gleiches gilt für fast alle Konflikte und Kriege auf dieser Welt. Aber die Studierenden dürfen etwas von mir erwarten, nämlich: Raum für Aufklärung, angstfreie Debatten, wissenschaftliche Instrumente und Theorien, um Konflikte und Kriege zu verstehen, zu erklären und zu lernen, wie Konflikte auch gelöst und wie Frieden geschaffen werden können. Das geht aber nur, wenn Mut die Angst in der Hochschule besiegt, wir die öffentliche und freie Debatte fördern und unterstützen – und uns dabei auch mal einen Fehler, eine unglückliche Formulierung, eine andere Sichtweise oder auch ein paar Emotionen verzeihen, um gleichzeitig jeder Form von Menschenfeindlichkeit klar entgegenzutreten und ihr zu widersprechen. Mut zur Menschlichkeit entsteht durch konkrete Solidarität und ein Verstehen wollen der jeweils anderen Seite. Angst hemmt jeden demokratischen Diskurs, führt zur Vereinzelung und ermöglicht auch immer wieder, dass radikale Gruppen und Stimmen die Ängstlichen abholen, um sie für ihre menschenfeindliche Sache zu gewinnen.